Von Ruprecht M. Hopfen, 1965
Wer Rallye fährt, "muß eine besonders große Schraube locker haben", schrieb kürzlich eine große amerikanische
Motorsportzeitung, fügte aber hinzu, daß dieser Sport auch heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren habe, ja noch im
Zunehmen begriffen sei, denn nun hätten auch die großen Werke der Automobilindustrie (zumindest im Ausland, muß man wohl
hinzufügen) den Werbewert, aber auch den Vorteil des Gewinns an technischen Erfahrungen erkannt haben, den diese harten
sportlichen Prüfungen mit sich bringen.
Als ich vorüber 15 Jahren meine Motorradbrille aus der Zeit vordem Krieg wegwarf - was ich bei dem ersten Verlust meiner
Windschutzscheibe bei einer Winterrallye bitter bereute - und mich dem Automobilsport zu widmen begann, wurde mir seitens
erfahrener Sportkameraden (Erfahren kommt von Fahren) geraten, mich ja zu beeilen, denn die Verkehrsverhältnisse, das
Unverständnis einiger Behörden und die übrigen Verkehrsteilnehmer würden wohl in aller Kürze dieser Sportart den Garaus machen.
Im Verlauf der Jahre habe ich gelernt, mit diesem Gespenst zu leben. Gewiß, es sind einige der international bekannten
Veranstaltungen dem Moloch Massenverkehr zum Opfer gefallen, so die Mille Miglia, die Tour de France, die Rallye Soleil Cannes,
Lüttich-Rom-Lüttich, die Rallye Hanseat und manch andere bekannte Zuverlässigkeits- und Prüfungsfahrt "alter Art". Geblieben sind
aber eine Reihe von "klassischen" Rallyes, die durch ihren hohen sportlichen Wert nach wie vor eine Sonderstellung einnehmen. Zu
ihnen zähle ich neben der Monte Carlo, der Tour des Alpes, der Rallye zur Mitternachtssonne, Akropolis und Adria-Rallye, der Tour
de Corse und der Tulpen-Rallye auch die Deutschland-Rallye, die vom AvD und ADAC unter dem Schirm der beiden Clubs als Wächter
der Gesetze sportlicher Ritterlichkeit verbindenden ONS, abwechselnd durchgeführt, in diesem Jahr dem traditionsreichen
Frankfurter Automobilclub im A v D anvertraut ist.
So, wie die Zeiten sich gewandelt haben, so haben sich auch die großen klassischen Rallyes gewandelt, getreu dem Wort von Stefan
George, "Sieger bleibt, wer das Schutzschild birgt in seinen Marken und Herr der Zukunft der sich wandeln kann".
War es früher das Ideal, die Entscheidung dieser Läufe zur Europameisterschaft auf der Straße zu suchen und durch hohe
Durchschnittsgeschwindigkeiten auf kurvenreichen, bergigen oder durch die Witterung schwer befahrbaren Straßen und
Geländestrecken den Konkurrenten Strafpunkte an den Zeitkontrollen "aufzubrummen", so kam man auf die absurde Idee, diese
Sportart zu einem Wettbewerb zwischen den Beifahrern und ihren Uhren, Rechenschiebern und Geschwindigkeitstabellen zu
degradieren.
Nun möge man beileibe nicht glauben, daß der Beifahrer heute überflüssig geworden sei. Im Gegenteil, es gibt nicht viele
Co-Piloten, die über Stock und Stein, bei Nacht und Nebel, auf Eis und Schnee oder im Gewirr der Stadtdurchfahrten "den
Schnitt" halten, während der hohe Herr Bewerber, der "Concurrent" oder "first driver" zwar nicht gerade sanft, aber doch voller
Vertrauen zu seinem Teamgefährten schläft. Ganz anders natürlich, wenn der Champion selbst geruht, sobald es aufs Ganze geht,
das Volant zu ergreifen. Wehe dem Beifahrer, der dann nicht hellwach Fragen, wie z.B. "wie liegen wir", "wie weit noch bis zur
nächsten Kontrolle", "wie ist der Öldruck", "wann kommt die Abzweigung"? wie aus der Pistole geschossen beantworten kann. Ein
guter Beifahrer, und es gibt einige von legendärem Ruf, vereint die Eigenschaften eines Rennmechanikers und Mathematikgenies
mit denen des Gedächtniskünstlers, Diatpflegers und Nervenarztes in einer Person. Es ist ein Wunder, daß man überhaupt noch
solche Leute findet. Aber glücklicherweise ist bei ihnen oft die bewußte Schraube genau so locker - wenn nicht lockerer.
Heute ist man von den sogenannten "Uhrmacherrennen" abgekommen und bei internationalen Rallyes zu einem etwas anderen System
gelangt. Nach wie vor wird auf öffentlichen Straßen mit hohen, dem modernen Verkehr entsprechenden Reisegeschwindigkeiten
gefahren, soweit nicht unverständige Stellen auf die Idee kommen, die Sportfahrer durch Auflagen zu zwingen, auf der Autobahn
langsamer als die Lastzüge "dahinzuschleichen".
Die Entscheidung der modernen Rallye fällt jedoch, wie bei der Rallye Frankfurt/Bad Homburg mit ihren 20 Sprintetappen, auf
den "Sonderprüfungen", also auf abgesperrten oder verkehrsarmen Nebenstraßen. Besondere Einlagen sind die Bergrennen, die, um
den Bürger nicht gar zu sehr zu erschrecken, Berg-"Prüfungen" genannt werden. Hier, wie bei den Sprintetappen werden entweder
die Zeiten für die Zurücklegung dieser besonders gekennzeichneten Abschnitte so hoch angesetzt, daß jede Zeitüberschreitung
Strafpunkte einbringt. Oder aber die Unterschreitung dieser Zeit bringt Gutpunkte. Eine andere Wertungsart beruht auf dem
Nullzeitsystem. Der Schnellste auf der betreffenden Strecke in jeder Hubraumklasse bleibt strafpunktfrei. Die anderen werden
entsprechend den mehr benötigten Sekunden und Minuten mit Punkten belastet. Aber, gerechnet muß immer noch werden und wehe dem,
der sich nicht auf der Karte auskennt.
Spezialetappen werden meist vorher zur Orientierung abgefahren. Man legt jede Kurve, jede Gerade und jedes besondere
Kennzeichen nach einer Art Code in dem sogenannten "Gesangbuch" fest. Dies liest der Beifahrer dann etwa so vor: "Rechts gut,
links gut, links mittel, 50 Meter voll, rechts gut, 100 Meter Haarnadel links, rechts gut, am roten Dach zweiter Gang,
links/rechts gut", usw. Es gibt unzählige neckische Geschichten über das "Gesangbuch" und den Beifahrer, der eine Seite
überblätterte und dann statt "Achtung, links wird enger, zweiter Gang, "links gut, voll stehen lassen" vorlas und dann die
weitere Unterhaltung mit seinem Teamgefährten im Graben fortsetzen konnte. Die Verwendung von Düsenjägersturzhelmen mit
eingebautem Sprechgerät für diesen Zweck blieb allerdings bisher den englischen Werksmanagern vorbehalten, die diese für ihre
aus Finnland importierten Spitzenfahrer mit Erfolg einsetzten.
Immer wieder - auch notabene seit 15 Jahren werde ich nun gefragt, wie denn nun ein großer Mercedes, Ferrari oder Ford gegen
einen kleinen Glas, NSU oder Austin, ein normaler Opel Kadett oder DKW gegen einen Porsche oder Volvo konkurrieren könne. Auch
hier haben sich die würdigen Herren, die Sie am Rande der Sonderprüfungen mit strengem Blick, Leder- oder sonstige
Funktionärsbinde am Arm, Stoppuhr in der Hand und vielen wohlverdienten goldnen und silbernen Ehrenzeichen am Rockaufschlag
beobachten können, etwas ausgedacht. Nicht alle dasselbe leider Gottes, trotz FIA, ONS, DSK und wie die großen Veranstalter
oder Sportfahrer-Organisationen alle heißen. Aber um die Handicapformel ist schon viel Schweiß der Edlen geflossen.
Sei es nun Urvater Heinemanns "Leistungsgewichtsformel", bei der dieser hochverdiente Sportleiter des Gaues Hessen des ADAC
das Gewicht jedes Wagens in ein Verhältnis zu seiner PS-Leistung setzte oder Fritz Kochs, des großen Wiedererweckers der
berühmten Rallye Bad Homburg des Frankfurter Automobilclubs, auf der die diesjährige Deutschland-Rallye fußt Gedanke, durch
unterschiedliche Klassenrichtzeiten für jede Sonderprüfung einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Hubraumklassen und den
Gruppen der Tourenwagen, Gran Tourismo und Sportwagen zu finden.
Ein einheitliches System gibt es nicht. Einige sind so kompliziert, wie zum Beispiel das der Rallye Monte Carlo, bei dem aus
dem Hubraum eine Wurzel gezogen wird, die, multipliziert mit einer für normale und verbesserte sowie Gran Tourismo und diesen
angeglichenen Wagen verschiedenen Zahl einen Faktor ergibt, mit dem alle bei den Sonderprüfungen gefahrenen Zeiten
multipliziert werden. So ergibt sich dann zum Beispiel, daß zwar der Jaguar schneller war als der kleine BMW, aber im
Verhältnis eben nicht schnell genug, wenn seine Zeit auf den Spezialetappen mit 0,3518 und die des BMW mit 0,3271 multipliziert
wird.
Obwohl nicht perfekt, sind diese Handicapformeln so verbessert worden, so auch das von dem unvergessenen Rudolph Moser und dem
heutigen Leiter der Rallye Frankfurt/Bad Homburg und ehemaligen deutschen Vize-Rallyemeister Hahn für die Deutschland-Rallye
1965 entwickelte Wertungssystem, daß sie dem internationalen Rallyesport, der sich ja besonders in Frankreich, England,
Skandinavien und den Ostblockländern einer großen Förderung seitens der Behörden, der Presse und der Industrie erfreut, seine
besondere Eigenart erhalten haben. Hier gibt es noch ein letztes Stück Freude am Fahren, die das Automobil die Welt erobern
ließ. Bei einer oft über mehrere tausend Kilometer führenden internationalen Rallye, wie bei dieser schweren Prüfung, die in
klassischer Weise auf Geländestrecken ebenso verzichtet wie auf reine Rennstrecken und über deren Teilnehmer dieses Programm
berichtet, können nicht hochgepäppelte, "bis über die Puppen frisierte", auf Anhängern herbeigeschleppte, zerbrechliche
Rennmaschinen und Fahrwerke durchhalten, sondern nur sehr solide Gebrauchsfahrzeuge höchster Leistung und - von der Bremse bis
zum Scheibenwischermotor - absoluter Zuverlässigkeit.
Und die Rallye fahrenden Damen ?, werden manche Zuschauer fragen. Ist das auch ein Sport für das schwache Geschlecht? Nun, ich
habe einige gesehen, die es nicht nur mit dem stärkeren Geschlecht aufnahmen, sondern noch viele ihrer männlichen Konkurrenten
übertrafen - und ich meine nicht nur Pat Moss, Sylvia Oesterberg und Evy Rosquist. Schade nur, daß Deutschland trotz einiger
guter Talente seit Ruth Lautmann keine Rallyefahrerin von Weltklasse mehr hervorgebracht hat, wie wir sie bei den Herren in
Boehringer, H.J. Walther, Glemser, Springer und Supper, um nur einige zu nennen, auch heute besitzen. Vielleicht sollten hier
die Wege durch besonders reizvolle Preise für gemischte Teams geebnet werden, so wie es in der "guten alten Zeit" war, als die
Werksteams noch nicht das Feld beherrschten und die Rallyes neben dem sportlichen Wettkampf auch ihren Reiz als große
gesellschaftliche Veranstaltungen besaßen.
Diese Zeit ist vielleicht vorüber, aber die Deutschland-Rallye, als eine der großen klassischen Prüfungen lebt weiter auch in
ihrer neuen Gestalt. Sie muß Ihren Platz innerhalb des Motorsports behalten, der, als ein echter Volkssport, nicht nur zur
fahrerischen Vervollkommnung und damit zur Sicherheit im Verkehr beiträgt, sondern auch in Deutschland bei zwei
Großveranstaltungen auf dem Nürburgring weit mehr Zuschauer anlockt, als "König Fußball" in allen Bundesligaspielen zusammen im
ganzen Jahr.
In diesem Sinne rufen wir der Deutschland-Rallye Frankfurt/Bad Homburg 1965 und allen aktiven Fahrern, Sportwarten und Helfern
nach alter Art gestern, heute und morgen "Hals- und Beinbruch" zu.
Ruprecht M. Hopfen
Europa Rallye Meister 1957
Deutscher Tourenwagen Meister 1958
|